Reichspogrom kam in Datteln einen Tag später
20 Stolpersteine in der Stadt erinnern an die jüdischen Kaufleute und ihr Schicksal
Von Sebastian Balint, Dattelner Morgenpost, 9. November 2018
Datteln. Mit der Reichspogromnacht am 9. November 1938 wurde der Nazi-Terror auch für Dattelner Juden bittere Realität und zur Schicksalsfrage.
Emmi Goldberg war die letzte jüdische Bewohnerin der Stadt Datteln, die eines natürlichen Todes starb und hier bestattet wurde. Die in Datteln verbliebenen Juden wurden später nach Riga deportiert. Foto: ANDREAS KALTHOFF
Man kann sich nur schwer vorstellen, was in den Köpfen der Familien Hecht und Goldberg vorgegangen sein muss, als sie sich am Morgen des 10. November 1938 den
rücksichtslos agierenden Schlägertrupps des Nazi-Regimes gegenüber sahen. Denn der am Vorabend in München ausgerufene Pogrom – das war heute vor 80 Jahren – hatte nun auch die Stadt Datteln
erreicht.
Die Familie Hecht betrieb ein Geschäft für Textilwaren am Tigg Nummer 9, direkt gegenüber lag das Kaufhaus der Familie Goldberg. Beide Unternehmen hatten den Boykott
von 1933 weitestgehend gut überstanden.
Zu Ausschreitungen oder Schlimmerem war es im Rahmen des Boykott-Aufrufs nicht gekommen. So vermerkte es seinerzeit zumindest die Polizeidirektion in Recklinghausen.
„Man war auf die wirtschaftliche Tätigkeit der jüdischen Geschäftsleute einfach noch angewiesen“, erklärt Theo Beckmann, Vorsitzender des Heimatvereins Datteln.
Die jüngeren Mitglieder der jüdischen Gemeinde in Datteln hatten das Land längst verlassen. „Sie ahnten wohl, dass es für sie keine Zukunft im Reich geben würde“,
ergänzt Beckmann. „Immerhin wurden die Rechte der im Reich lebenden Juden seit 1933 stark eingeschränkt.“
Juden waren bei den Dattelnern beliebt
Zum Zeitpunkt des Pogroms lebten weniger als 20 Juden im Stadtgebiet. Zwar wurde den jüdischen Markthändlern eine abgeteilte Verkaufsfläche zugewiesen, die Geschäfte
in der Innenstadt blieben von größeren Einschränkungen aber verschont. „Die von den Kaufleuten angebotenen Artikel waren günstig und es war bei ihnen sogar erlaubt anzuschreiben, wenn das Geld
gerade einmal knapp war. Das machte sie zu beliebten Mitgliedern der Stadtgesellschaft“, skizziert Theo Beckmann die damalige Situation. Die jüdischen Familien waren sozial wohl bestens
integriert. Immerhin hatten sich einige der Familien schon um 1814 in Datteln angesiedelt und ihre Kinder besuchten ab 1844 christliche Schulen im Ort.
Die Gemeinde war Anfang 1938 bereits derart geschrumpft, dass die Synagoge im Ort nicht zu halten war. Zehn männliche Personen, die mindestens 13 Jahre alt sein
mussten und bereits ihre Bar Mizwa (Übergang ins Erwachsenenalter) hatten, braucht es nämlich, um einen Gottesdienst nach jüdischem Glauben abhalten zu dürfen.
Ein benachbarter Bäcker kaufte der Gemeinde das Gebäude der Synagoge am Türkenort für 1700 Reichsmark ab. Ein „Schnäppchen“! Immerhin beliefen sich die Baukosten
neun Jahre zuvor noch auf 5000 Reichsmark. Am 23. Oktober 1938, also wenige Tage vor dem Pogrom, wurde dort der letzte Gottesdienst abgehalten.
Als am Vormittag des 10. November die Schlägertrupps der SA aus den Nachbarstädten in der Dattelner Innenstadt anrücken, muss ihnen der Verkauf des jüdischen
Gotteshauses an den benachbarten, „arischen“ Bäcker bereits bekannt gewesen sein.
Synagoge wurde verschont
Denn im Gegensatz zu anderen Synagogen im Reich fiel das Dattelner Gebetshaus nicht den faschistischen Brandstiftern zum Opfer. Das Mobiliar hingegen wurde
vollständig zerstört oder entwendet.
Die Nazis gaben sich jedoch nicht allein damit zufrieden, die Fenster der jüdischen Geschäfte und Wohnhäuser zu zerstören. Sie plünderten die Wohnungen der letzten
zehn in der Stadt verbliebenen Familien. Selbst vor Misshandlungen schreckten die Schlägertrupps nicht zurück.
„Den Juden wurden die Scheiben eingeworfen, die Radios aus dem Laden auf die Straße geworfen, die Federbetten aufgeschlitzt und die Möbel angezündet“, berichtet ein
Augenzeuge in dem Buch „Juden in Datteln“ der VHS-Geschichtswerkstatt. „Die Bevölkerung von Datteln war nicht gegen die Juden. Die meisten der Nachbarn standen auf der Straße und äußerten ihre
Verständnislosigkeit für solche Maßnahmen“, heißt es dort weiter. „Von Volkszorn oder Empörung gegen die Juden in Datteln kann keine Rede sein“, erinnert sich ein anderer Zeitzeuge.
„Die Juden mussten ihre Geschäfte schließen und ich weiß nicht, wo sie geblieben sind. Ich habe danach keinen mehr gesehen“, weiß ein damals zehnjähriger Anwohner zu
berichten.
Die Dattelner Juden wurden fortan aus dem Stadtleben entfernt und in einer Baracke untergebracht. Dort verblieben sie, bis sie letztendlich nach Riga deportiert und
ermordet wurden.
Heute, 80 Jahre später, erinnern 20 Stolpersteine an das Schicksal der letzten Juden in Datteln.
Zur Geschichte der Juden in Datteln