1923: Die Franzosen besetzten Datteln

von Gertrud Ritter, Vestischer Kalender 1998, S. 184 ff

 

Die Vorgeschichte

 

Im Friedensvertrag von Versailles 1919 diktierten die Siegermächte Deutschland Gebietsabtretungen, Entwaffnung und stellten Wiedergutmachungsforderungen im Gesamtwert von 132 Milliarden Goldmark. Eine ungeheure Summe, deren Zahlung die Deutschen gar nicht nachkommen konnten. Der Zahlungsplan wurde in der Londoner Reparationskonferenz im Mai 1921 festgelegt.

 

Obwohl von deutscher Seite soviel an Geld und Sachleistungen an die Siegermächte abgeführt wurde wie nur eben möglich, konnte 1921 nur die Hälfte der für das Jahr vorgesehenen Summe von zwei Milliarden Mark aufgebracht werden. Ein Lieferungsrückstand von 2,1 Milliarden Tonnen Kohle, 20.000 Kubikmeter Holz und 13.000 Telegraphenstangen nahm Frankreich im Januar 1923 zum Anlass, unter Verletzung des Versailler Friedensvertrages französische und belgische Truppen (insgesamt 100.000 Mann), ausgerüstet mit Kanonen und Panzerwagen, über den Thein in Marsch zu setzen. Der Aufmarsch erfolgte von Mainz aus, wo die Truppen mobil gemacht wurden, über Düsseldorf und Duisburg in Richtung Essen und Bochum.

 

 

Die Franzosen in Datteln 1923 – 1925

 

Mit einer Besetzung Dattelns rechnete niemand. Doch schon bald wurde es zur Gewissheit. Datteln sollte der Eingang ins besetzte Gebiet werden. Am 15 Januar morgens gegen 8 Uhr wurde ein Radfahrertrupp in Stärke von 25 Mann, von Recklinghausen kommend, gemeldet. Dieser Trupp besetzte sofort den Bahnhof Datteln. Wenige Zeit nach der Besetzung kam die Nachricht vom Eintreffen zweier Militärzüge, die von Buer aus auf Datteln abgefahren seien. Die ankommenden Truppen verteilten sich nach Ankunft: ein Teil besetzte den Ortsteil Meckinghoven und Horneburg, der andere Teil, es waren zwei Schwadrone Kavallerie, schlug den Kurs auf den Ortskern Dattelns ein. Noch im Tagesverlauf rückten Infanterietruppen nach.

 

 

Insgesamt wurden 12 Offiziere, 600 Mann und 150 Pferde untergebracht. Als Unterkunft wurden Wirtschaften mit Sälen, die Meckinghover und Horneburger Schule, die Ringschule sowie Löringhoff genommen. Auf Verlangen musste ein Zimmer im Amtshaus für Geschäftszwecke hergegeben werden. Maschinengewehrnester wurden ausgehoben, Barrikaden, Schutzstände und Drahtverhaue errichtet. Die Lippe bildete die Grenze des Einzugsgebietes. Die Brücken zum unbesetzten Gebiet an der Rauschenburg, die Brücke in Ahsen sowie die Straßensperrung bei Niehage in Meckinghoven zum Dortmunder Raum wurden stark befestigt, und ohne Personalausweis, der schwer zu beschaffen war, durfte niemand die Brücken bzw. die Grenzen passieren.

 

 

 

Foto: Besetzung des Bahnhofs Datteln durch die Franzosen 1923.

 


Einrücken der französischen Besatzung in Datteln

am 15. Januar 1923.

 

Es herrschten kriegsähnliche Zustände. Rohheitsdelikte waren an der Tagesordnung, und Überfälle auf Frauen und Männer waren keine Seltenheit. Die Dattelner Schutzpolizei wurde ins unbesetzte Gebiet abtransportiert. Der Dattelner Amtmann Dr. Odenbreit und Amtsbeigeordneter Wille wurden mehrere Male verhaftet und längere Zeit im Gefängnis Recklinghausen festgehalten. Ebenso erging es Bergmeister Wiesmann und Bergassessor Wächter der Zeche Emscher-Lippe wegen Nichtbefolgung französischer Befehle zur Kohleförderung an Frankreich.

 

Der Dattelner Anzeiger schrieb in einem Bericht aus der Dattelner Besatzungszeit 1923–1925 am 26. September 1925: Ein schmerzliches Ereignis reihte sich an das andere in ununterbrochener trauriger Folge. Jeder Tag brachte neues Leid, riss die Bevölkerung vom alten Schmerz empor zur neuen Qual.“


Die Reichsregierung hatte zum passiven Widerstand aufgerufen. Sie verbot allen Beamten, Befehlen der Besatzungsmächte Folge zu leisten. Unternehmen wurde untersagt, Kohlen an Frankreich oder Belgien zu liefern. Eisenbahner durften Kohlenzüge nicht mehr in Betrieb setzen. Am 8. April 1923 sprengten junge Leute bei Henrichenburg den Emscherdüker, wodurch der Kanal auslief und so für längere Zeit als Transportweg nicht mehr zur Verfügung stand.

 

Die Bergmänner fuhren zwar zu den Schichten ein, bauten aber keine Kohle ab. Sie folgten dem Aufruf ihrer Steiger (nach Aussage von Heinrich Niestrath, ehemaliger Betriebsführer der Zeche König Ludwig): „Kumpels, lasst euch ruhig nieder, der passive Widerstand kehrt niemals wieder.“

 

Die Besetzung der Zeche Emscher-Lippe

 

Wie sich die Besatzung der Franzosen auf die Zeche Emscher-Lippe auswirkte, geht aus einem Auszug aus der Berichterstattung der Zechenverwaltung aus dem Jahre 1923 hervor:

 

26. Januar: Kohleförderung und Koksproduktion werden zunächst beibehalten und auf Halden gestürzt.

21. Februar: Eine Koksbatterie wird stillgelegt.

11. März: Die ersten Zechenbesetzungen. Unsere Zeche stellt sich auf die veränderte Lage ein. Förderung wird auf die Hälfte eingeschränkt. Die unproduktiven Arbeiten werden stärker belegt, ein teil der Rohförderung wird auf Lager gestürzt.

17. März: Eine weitere Koksbatterie wird stillgelegt.

26. März: Zwei weitere Koksbatterien werden stillgelegt

29. März: Besetzung unserer Anlagen. Lagerbestände werden beschlagnahmt und die Bahnanlagen besetzt. Lokomotiven und Wagenmaterial verfallen ebenfalls dem Zugriff der Franzosen. Die Belegschaft tritt in einen Proteststreik gegen die Besatzung ein, der auf Schacht I/II bis 6. April, auf Schacht III/IV bis 9. April dauert. Koksarbeiter werden der Fürsorge der Gemeinde unterstellt. Die unterirdische Belegschaft wird auf Aus- und Verrichtungsarbeiten und in der Hauptsache auf Reparaturarbeiten verteilt, nur ein ganz geringer Teil wird für die Gewinnung von Kohlen für den Selbstverbrauch verwandt. Gleich bei Besetzung wird seitens der Franzosen der Abtransport aufgenommen.

 

Ein Aufruf der Franzosen um Befolgung bestimmter Anordnungen mit der Überschrift „An alle Kumpels“ wird durch folgende derbe plattdeutsche Antwort abgetan:

„Laiwe General Degoutt

Leck us Berglüe in’ne F …

Wenn du hier waos Loulen halen,

mos du söw’s in’n Koulberg fahren,

Drüm segg ick di du Franzemann,

gaoh rut ut usse Westfaolenland.“

De westföl’schen Kumpels

Die Zeche Emscher-Lippe wird am 29. März 1923 von den Franzosen besetzt.


Ein Vordenker für ein geeintes Europa?

 

Am Karfreitag 1923 kam es in Datteln zu einem historischen Ereignis. Der französische Ortskommandant in Datteln, Etienne Bach, nahm an diesem Tag an der Abendmahlsfeier im Lutherhaus teil. Der evangelische Pfarrer Wunderlich erkannte die Situation und lenkte den französischen Kommandanten so geschickt, dass er ihn neben den Dattelner Amtsbeigeordneten Wille platzierte. Während des Abendmahls gingen beide gemeinsam zum Tische des Herrn und tranken aus demselben Kelch. Diese kurze Einigkeit hatte alle Kirchenbesucher stark berührt. Fortan war das Verhältnis zwischen den Besatzungssoldaten und der Dattelner Bevölkerung leicht entschärft.

 

Etienne Bach wurde später reformierter Pfarrer in Frankreich. Er gründete ein Friedenswerk für Völkerverständigung. Dieses Friedenswerk hat der Evangelischen Kirchengemeinde in Datteln einen Abendmahlkelch geschenkt. Dieser schlichte Silberkelch ist heute noch in der Lutherkirche in Gebrauch. Er diente als Vorlage für das neue Dattelner Kirchensiegel.


Im späten Herbst 1923 funktionierten die Eisenbahnverbindungen nach Frankreich und Belgien wieder. Trotz des allgemeinen Widerstandes, den Arbeiter wie Unternehmer, Beamte wie Bürger an den Tag legten, gelang es den Franzosen doch, die Produktivität wieder herzustellen. Ausländische Arbeiter, die ins Revier gebracht worden waren, hatten die Arbeit in den Zechen übernommen. Erst nach zwei Jahren verließ der letzte Franzose der Besatzungsarmee das Ruhrgebiet.

 

Quellen:

„Die Franzosen in Datteln“, von Amtsobersekretär Gerhard Janssen, Datteln, Ausgabe 1928

Dattelner Anzeiger, Ausgabe vom 26. September 1925

Bericht: Hansjötrg Richard, evangelischer Pfarrer in Meckinghoven

Fotos: Stadtarchiv Datteln

 

Dattelner Abendmahl                                                                                               Die Perlen der Stadt