Sie gingen gemeinsam zum Tische des Herrn, der französische Offizier Etienne Bach und der Dattelner Beigeordnete Karl Wille. Am Karfreitag des Jahres 1923 führte sie ihr Glaube im Dattelner Lutherhaus zusammen, sie standen nebeneinander bei der Gabe des Abendmahls. Als Pfarrer Wunderlich die Chance für diese historische Begegnung sah, ergriff er die Initiative und platzierte die beiden Amtsträger, den Uniform tragenden französischen Hauptmann und den höchsten Vertreter des Amtes Datteln nebeneinander. Denn nachdem Amtsbürgermeister Dr. Odenbreit ins unbesetzte Gebiet ausgewiesen war, lagen die Dattelner Amtsgeschäfte in den Händen seines Stellvertreters, dem Beigeordneten Karl Wille.
Es waren damals, Ende März 1923, unruhige Zeiten im Ruhrgebiet und in Datteln. Die Besetzung des Ruhrgebiets durch die französische Armee in den Tagen nach dem 11. Januar 1923 verstand die französische Regierung unter Raymond Poincaré als Vergeltung für unzureichende deutsche Reparationsleistungen. Als kleine Gemeinde an der Nordgrenze des besetzten Gebietes wurde am 15. Januar 1923 auch Datteln für 30 Monate besetzt. Das Rathaus wurde in Beschlag genommen, dort wurde eine französische Kommandantur eingerichtet Bis zu 600 Soldaten nebst Pferden, Panzern und Geschützen wurden an verschiedenen Orten in Datteln einquartiert, Gaststätten, Schulen, private Wohnungen, auch Schloss Löringhof dienten den Soldaten als Unterkunft und standen den Dattelnern für die Zeit der Besatzung nicht zur Verfügung.
Französische Soldaten bewachen den Eingang zur Schule am Grünen Weg.
Die Weimarer Republik, die von Anfang an mit einem Geflecht gravierender Probleme zu kämpfen hatte, sah sich zu Beginn des Jahres 1923 mit einem weiteren Problem konfrontiert. Die Erfüllung der vom Versailler Vertrag festgelegten Reparationsforderungen stellte die schwerste außenpolitische Belastung der deutschen Regierungspolitik dar, die sich ab 1919 kontinuierlich bemühte, die „Schulden“ abzumildern und ihre Begleichung in die Länge zu ziehen.
Grenzkontrolle an der Rauschenburg.
Die Lippe wurde zur Grenze zwischen dem besetzten Ruhrgebiet und dem besetzten Münsterland.
In Datteln, an der Lippe, war die Grenze zwischen dem besetzten und unbesetzten Gebiet. Die aus französischer Sicht notwendigen umfangreichen Pass- und Zollkontrollen an den drei Lippebrücken verlangten einen erhöhten Personalaufwand und ließ die Zahl der französischen Soldaten anschwellen. Und als die Haard für die Zivilbevölkerung gesperrt und als Truppenübungsplatz genutzt wurde, wechselten die jungen Rekruten, die in Unterkünften am Rande der Haard einquartiert waren, in schneller Folge.
2023 hat sich die Dattelner Stadtgesellschaft an diese denkwürdigen Ereignisse, die vor 100 Jahren die Welt bewegten, wieder erinnert. Ein Vortrag des Heimatvereinsvorsitzenden im Dachsaal des Dorfschultenhofes betrachtete die Motive und Hintergründe dieses gewaltsamen Konfliktes um die Ruhr. Ein lange vergessenes historisches Ereignis, wurde wieder zum Leben erweckt: 60.000 französische und belgische Soldaten hatten – unter Verweis auf unerfüllte deutsche Reparationsleistungen – das gesamte Ruhrgebiet von Duisburg bis Dortmund, einschließlich auch unserer kleinen Gemeinde Datteln, besetzt, um – gegen den passiven Widerstand der deutschen Bevölkerung – Kohle und Koks von hier nach Frankreich abzutransportieren.
Neben den Zeugnissen des feindseligen Verhältnisses und der unnachgiebigen Konfrontation zwischen den Besatzern und den Menschen in Datteln finden sich auch Beispiele für Annäherung und nachgiebigere Verhaltensweisen. Etienne Bach, ein aus Elsass-Lothringen stammender in Datteln stationierter französischer Offizier, nahm am Karfreitag 1923 mit seinem bisherigen erbitterten Gegner, dem Dattelner Beigeordneten Karl Wille, an einem Abendmahl im Lutherhaus teil.
Dass der französische Offizier an diesem Gottesdienst teilnahm, kann sicherlich nicht als spontane Reaktion Etienne Bachs gesehen. Ihm muss bewusst gewesen sein, dass sein Erscheinen beim Karfreitagsgottesdienst im Lutherhaus in Uniform Aufsehen erregen würde. Er wollte ein deutliches Zeichen an die Dattelner senden, dieser Besuch muss als wohlüberlegte Aktion des gelernten Theologen gewertet werden. Denn auch an anderen Standorten in Deutschland, wo er als französischer Besatzungsoffizier seinen Dienst verrichtete, suchte er stets die Begegnung mit den Menschen in den besetzten Gebieten. Er strebte zuallererst friedliche Konfliktlösungen an, anstatt mit Waffengewalt den französischen Machtanspruch durchzusetzen.
Etienne Bach (1892 - 1986)
Die Vorsitzende der Evangelischen Landeskirche von Westfalen, Präses Dr. Annette Kurschus, die zur Zeit auch das Amt der Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) innehat, ist nach Datteln gekommen, um in der Lutherkirche im Rahmen eines Gedenkgottesdienstes das historische „Dattelner Abendmahl“ vom Karfreitag 1923 zu würdigen. Nach dem Abendmahl reichten sich Karl Wille und Etienne Bach die Hand zur Versöhnung und gingen anschließend verständnisvoller miteinander um. Auf der Basis des gemeinsamen christlichen Glaubens, in gegenseitigem Respekt suchten sie fortan nach Lösungen für die anstehenden Alltagsprobleme, die sich über die Osterfeiertage natürlich nicht in Luft aufgelöst hatten. Mehrmals hat Etienne Bach diese friedensstiftende Begegnung im Dattelner Lutherhaus als Ausgangspunkt für sein späteres Friedensengagement bezeichnet.
Anlässlich der 100. Wiederkehr des Dattelner Abendmahls: Präses Dr. Annette Kurschus, zusammen mit dem stellv. Landrat Dr. Marco Zerwas und dem Dattelner Bürgermeister André Dora beim Empfang im Etienne-Bach-Haus. (Foto: Gerhard Muthreich, Ev. Kirchengemeinde Datteln)
In einem Wikipedia-Beitrag wird Etienne Bachs Lebensweg dargestellt:
„Etienne Bach wurde am 12. September 1892 als erstes von fünf Kindern in Lunéville in Lothringen als Sohn der französischsprachigen Schweizerin Thérèse Cuénod und dem protestantischen Pfarrer Jacques Bach geboren. Die aus dem Elsass stammende Familie besaß deutsche Wurzeln, doch Bach sah sich, wie bereits sein Vater, als Franzose. Er studierte zunächst in Lyon und begann anschließend in Paris ein Theologiestudium, welches er nicht direkt beendet konnte, da er im Jahre 1912 in den Militärdienst einberufen wurde. Während des Ersten Weltkriegs wurde er zum Leutnant der Alpenjäger berufen. 1921 wurde er in Trier eingesetzt, wo er seinen ersten Kontakt zu Christen aus Deutschland hatte. 1923 nahm er an der Besetzung des Ruhrgebiets durch französische und belgische Truppen teil, mit der die im Versailler Vertrag festgesetzten Reparationszahlungen durchgesetzt werden sollten.
Seine Einstellung zum Krieg veränderte sich beim „Dattelner Abendmahl“, das 1923 stattfand, als er am Karfreitag zufällig gemeinsam mit seinem politischen Gegner, dem deutschen Gemeindedirektor aus Datteln, Karl Wille, im Lutherhaus zu Datteln das Abendmahl feierte. Sie reichten sich die Hand mit dem Versprechen, sich gegenseitig als Christen zu akzeptieren. Rückblickend dazu sagte er: „Ich habe verstanden, dass die Macht Christi von einem Menschen alles verlangen kann. Von jenem Tage an herrschte Frieden zwischen uns, und die ganze Stadt hat es spüren können.“ Dieses neue, friedenstheologische Verhalten zeigte sich im Juni 1923 in Gelsenkirchen: Hier verweigerte er einen Schießbefehl während einer Demonstration und überzeugte die Beteiligten von einer Einigung ohne Gewalt.
Ca. 1924 gründete er die Friedensbewegung „Ritter für den Friedensfürsten“ (Les Chevaliers servants du Prince de la Paix). Ein Jahr später beendete er den Militärdienst und begann, sich für Versöhnung und Frieden einzusetzen. Dies erfolgte in unterschiedlichen Weisen: Er veröffentlichte Schriften, unter anderem das Bulletin des Chevaliers de la Paix, organisierte Tagungen der Kreuzritter in Frankreich, Belgien, Deutschland und der Schweiz, hielt zahlreiche Vorträge, in denen er für eine deutsch-französische Versöhnung warb, und arbeitete mit bei der Jugendkommission des Weltbundes für internationale Freundschaftsarbeit der Kirchen, eine Tätigkeit, die er allerdings 1939–1945 erneut als Soldat unterbrechen musste. In der Zeit verhalfen er und seine Frau jüdischen Flüchtlingen zur Flucht aus Deutschland und später auch aus Frankreich. 1944 nahm er an der Befreiung von Paris teil.
Nach dem Krieg zog Bach ins französische Margilley und wirkte bis 1970 als Pfarrer der Parochie von Gray im Département Haute-Saône. Im Jahre 1986 verstarb Etienne Bach in Margilley.“ (https://de.wikipedia.org/wiki/Etienne_Bach)
Die „Kreuzritter“-Bewegung öffnete sich für alle Berufsgruppen und wurde ein ökumenisches Versöhnungswerk mit dem Untertitel „Bewegung zur Heranbildung christlicher Jugend aller Nationen unter dem Protektorat des Weltbundes für Freundschaftsarbeit der Kirchen und des internationalen Friedensbüros.“ Später wurde die Bewegung umbenannt in „Christlicher Friedensdienst“ (CFD).
Etienne Bach kehrte noch zweimal an den Ort des Dattelner Abendmahls zurück. Als er 1963 Datteln einen Besuch abstattete, stiftete er der Evangelischen Kirchengemeinde zum Gedenken an die „unerwartete Begegnung“ von 1923 einen Abendmahlkelch, der später Siegelmotiv der Dattelner Kirchengemeinde wird. Bei seinem Besuch 1973 enthüllte er am Lutherhaus eine Gedenktafel, die an das historische „Dattelner Abendmahl“ von 1923 erinnert. 2014 entschied sich die Evangelische Kirchengemeinde, Etienne Bach ein ehrendes Andenken zu bewahren und ihr Gemeindehaus nach dem französischen Pfarrer zu benennen.
Abendmahlkelch, 1963 der Evangelischen Kirchengemeinde Datteln gestiftet von Etienne Bach
Bis heute fasziniert das „Dattelner Abendmahl“ dadurch, dass Versöhnung zwischen Feinden auch dann möglich ist, selbst wenn die Zeit dafür alles andere als günstig ist. Christlicher Glaube ist eine Kraft, welche die vermeintliche Gesetzmäßigkeit von ererbtem Hass und Gewalt zu durchbrechen vermag.
Jetzt lesen:
1923: Die Franzosen besetzten Datteln.
Etienne-Bach-Preis der Evangelischen Kirchengemeinde Datteln
In der Dattelner Morgenpost vom 18. März 2023 erschien zudem ein lesenswerter Artikel zum Thema:
Albrecht Geck: Das Dattelner Abendmahl und seine Folgen
Die Evangelische Kirchengemeinde Datteln würdigte die 100. Wiederkehr des "Dattelner Abendmahls".
Der Bericht der Dattelner Morgtenpost vom 20. März 2023 über diese Feier steht hier ...